Tag 06

Freitag, 04.07.2008 (Tag 6)

Heute stand unsere große Bergtour an. In meinem Reiseführer war von 4 – 5 Stunden Aufstieg für einen ungeübten Wanderer die Rede, und das erwies sich zumindest in unserem Fall als sehr viel zutreffender als die 2 Stunden der Hostel-Mitarbeiterin oder die 3 Stunden eines anderen Wanderers. Wir haben 5 Stunden für den Aufstieg gebraucht und 4 Stunden für den Abstieg. Okay, dazu muss man sagen, dass wir auf dem Hinweg immer öfter angehalten haben, je höher wir kamen, um etwas zu essen, zu trinken oder einfach die schöne Aussicht zu genießen. Und auf dem Rückweg ist Bianca auf halber Strecke umgeknickt und hat sich das Knie verdreht, deshalb kamen wir anschließend nur noch sehr langsam vorwärts. Um 21 Uhr kam ich an diesem Tag zum ersten Mal zum Schreiben. Da lagen wir beide fix und alle in unseren Betten, unsere Füße waren so richtig platt gelatscht, und wir hatten beide einen ordentlichen Sonnenbrand im Gesicht, aber trotzdem hatte sich der Aufstieg in jeder Weise gelohnt.

Ganz zu Beginn unserer Bergbesteigung trafen wir in der Informationshütte auf ein deutsches Pärchen, dessen Akzent oder eben dessen Nicht-Existenz irgendwie aufs Rheinland schließen ließen. Es stellte sich heraus, dass die Frau aus Düsseldorf stammte und der Mann doch tatsächlich aus Niederkassel-Ranzel! Am Loch Lomond liefen eh fast mehr Deutsche als Englischsprachige rum. Die Frau an der Hostel-Rezeption hatte sich als Wienerin entpuppt, und überall musste aufpassen, was man sagte, da fast immer jemand in der Nähe war, der Deutsch verstehen konnte.

Um 10:30 Uhr brachen wir dann entgültig auf, und ich muss sagen: Schottland liebt uns! Am Morgen hingen die Gipfel des Ben Lomond in dunklen Regenwolken, und unten am Loch sah es auch nicht sehr viel besser aus. Zuerst war uns das aber nur Recht, denn das erste Stück war ziemlich unwegsam, wir kämpften uns durch dichtesten Wald und Gestrüpp. Es war heiß, stickig und feucht, wie man es im brasilianischen Urwald vermuten würde, und wenn die Sonne vom Himmel gebrannt hätte, hätte uns das nur zusätzlich erschöpft (Video). Hier machte ich auch zum ersten Mal Bekanntschaft mit Midges, jenen winzig kleinen Plagegeistern, die kleiner sind als unsere Fruchtfliegen, deren Stiche aber unangenehmer sein sollen als die unserer einheimischen Stechmücken. Wie ich es erwartet hatte, ließen sie Bianca weitestgehend in Ruhe und stürzten sich sofort hungrig auf mich. Die Stiche taten im ersten Moment ziemlich weh, aber einige Minuten später spürte ich gar nichts mehr davon, auf alle Fälle keinen Juckreiz. Glücklicherweise hatte ich mein selbstgemischtes Midges-Abwehr-Spray nach einem alten Klosterkunderezept eingepackt. Diese Mischung aus Weizenkeimöl, Alkohol und ätherischen Ölen von Zitrone, Lavendel, Nelke, Minze und Lorbeer schien tatsächlich das zu schaffen, was Autan und Konsorten versprechen, aber nicht halten können: Die Midges machten fortan einen großen Bogen um uns beide.

Nach dem Waldstück gingen wir ein Stück durch frisch gerodetes Land. Ich weiß nicht, wieso sie alle Bäume dort gefällt haben, es war ein sehr tristes Bild. Dann begann aber endlich die typische Highlands-Vegetation: Unglaublich grünes Gras, alpine Blumen, darunter auch eine Menge Arnica und dazwischen immer mal wieder ein Haufen Schafkot, auf dem sich Schwärme von Bremsen tummelten, die mein Spray aber zum Glück auch auf Abstand hielt.

Je steiler und steiniger der Pfad wurde, desto öfter musste ich meine Geschwindigkeit drosseln, damit Bianca aufholen konnte (Video). Ich weiß selbst nicht, was an diesem Tag mit mir los war. Irgendwas an diesem Ort hat mir einen unheimlichen Energiestoß verpasst, ich bin ständig vorgelaufen, kam wieder zurück, habe den Weg verlassen, um noch schönere Fotos zu machen, kletterte dabei über Stock und Stein und wurde überhaupt nicht müde! Vielleicht lag das aber zum Teil auch daran, dass ich richtig gute Wanderstiefel trug und Bianca in ihren Chucks (waren das Chucks? Ich kenne mich ja mit Schuhen nicht aus) längst nicht so guten Halt hatte.

Immer noch hingen die Gipfel über uns in dunklen Wolken, und immer wenn uns Wanderer von oben entgegen kamen, rieten sie uns, unsere Fotos lieber jetzt schon zu machen, denn dort oben sähe man die Hand vor Augen nicht. Diese Nachricht weckte in Bianca dann glaube ich kurzzeitig den Wunsch, umzudrehen, zumal sie eh schon völlig fertig war und noch mindestens 2/3 des Weges vor uns lagen. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich ganz zuversichtlich sei, dass wir gute Sicht haben würden, sobald wir oben ankämen, da uns das Wetter bisher hier noch nie im Stich gelassen hätte. Irgendwann kam der Moment, wo wir plötzlich mitten in den Wolken hingen und nur ungefähr 3 Meter weit sehen konnten. Wir haben dann erst mal eine Pause gemacht, unser erstes Butterbrot verdrückt und waren beide sehr froh, dass ich meine Filzgugeln mitgebracht hatte, denn sobald man sich hinsetzte, wurde es richtig frisch. Wir müssen ausgesehen haben wie zwei verlorene Hobbits, wie wir da so einsam auf den Steinen am Wegrand saßen, die Kapuzen der Gugeln tief ins Gesicht gezogen.

Kaum hatten wir unseren Weg frisch gestärkt fortgesetzt, da kam plötzlich ein sehr angenehmer Wind auf, der uns fast den Berg hoch schob und vor allem die Regenwolken vor uns her schob, so dass sich die Wolkendecke um uns ganz plötzlich auflöste und sich Loch Lomond mit seinen Inselchen unter uns im allerschönsten Licht ausbreitete (Video). Seine Ufer waren noch wolkenverhangen, so dass es aussah, wie ein Blick auf Avalon, eine fremde Welt im Nebel. Und wieder musste ich an „Mio, mein Mio“ denken, denn dieser Anblick erinnerte mich an die Insel der grünen Wiesen. Während ich mit Bianca über diesen und andere Filme sprach, stellte sie fest, dass sie der Aufstieg gar nicht mehr so erschöpfte, wenn sie abgelenkt war. Also diskutierten wir munter weiter über Filme, und als ein Hügelkamm uns gerade an „Herr der Ringe – Die Gefährten“ erinnerte, wo sie diese endlosen Strecken durch die Nebelberge zu Fuß zurück legen, meinte Bianca: „Wenn ich Frodo wäre, würd ich mich umbringen!“ (Video). Nachdem ich meinen Lachanfall überwunden hatte, machte ich der erschöpften Frodo-Bianca den Vorschlag, auf dem großen Felsen am Wegesrand unsere zweite große Pause zu machen. Mehrere Wanderer kamen vorbei, die alle mit uns ein Schwätzchen hielten. Einer von ihnen kannte sich in Deutschland peinlicherweise viel besser aus als wir, obwohl er Schotte war. Gut, er hatte auch viele Jahrzehnte mehr Zeit gehabt als wir, Deutschland zu erkunden. Überhaupt kraxeln auf dem Ben Lomond erstaunlich viele Männer jenseits der 70 rum!

Frisch gestärkt setzten wir unseren Weg anschließend fort. Es wurde immer steiler, und ich kam mir mittlerweile wie eine Bergziege vor, hatte erstaunlicherweise auch fast genau soviel ungebremste Energie. Bianca bückte sich irgendwann und fragte mich, wieso die Steine hier so glänzten. Die untere Hälfte des Ben Lomond strotzt vor Quarzkristallen, in denen sich sicher viele tolle Drusen versteckt hätten, aber Steine mitschleppen ging dann leider wirklich nicht. Der obere Teil des Berges ist dagegen reichlich mit Pyrit durchsetzt.

Nach einer Zeit, die uns schier endlos vorkam und in der sich jeder vermeintliche Gipfel bloß wieder als weiterer Hügelkamm entpuppte, hinter dem es noch steiler wurde (Video), erreichten wir so plötzlich den Gipfel, dass wir es gar nicht glauben konnten. Mensch, war das ein Ausblick! Sämtliche Wolken waren verschwunden, und der herrlichste Sonnenschein tauchte das Tal unter uns in leuchtende Grün- und Blautöne (Video). Die Highlands stellten sich in der Ferne als dunkle, zerklüftete Gipfel dar. Eine einzelne Möwe hatte sich nach hier oben verirrt und schien den größten Spaß ihres Lebens zu haben. Sobald ein Windstoß aufkam, stürzte sie sich in die Böen, spannte die Flügel auf und vollführte die großartigsten Salti und andere halsbrecherische Kunststücke. Ich glaube, an dem Tag sind gut 100 Möwenfotos auf meiner Kamera gelandet.

Wir sind ziemlich lange dort oben geblieben, denn durch den Sonnenschein war es richtig angenehm warm. Während wir beobachteten, wie sich die faszinierenden Wolkenformationen in Schatten auf den grünen Wiesen unter uns spiegelten, entdeckte ich sogar den “Grimm”, den Unheil verkündenden schwarzen Hund aus “Harry Potter”, hechelnd und im vollen Gallopp ;-) Ich habe auch kurz von da oben, vom Dach der Welt, mit Sarah telefoniert und Bianca mit ihrer Familie. Als der Wind nach schätzungsweise einer Stunde (wir hatten jedes Zeitgefühl verloren) drehte, wurde er plötzlich so eisig, dass wir unsere Regenjacken überzogen, um dem Wind nicht so sehr ausgesetzt zu sein, und machten uns an den Abstieg.

Bianca gegenüber hatte ich wieder den Vorteil der guten Wanderstiefel. Ich wäre ein paar Mal auf wackligem Geröll umgeknickt, hätten mich meine Stiefel nicht gestützt. Bianca hatte weniger Glück und ist dann etwa auf der Hälfte der Strecke so böse umgeknickt, dass sie sich ihr Knie verdreht hat und sich erst mal hinsetzen musste. Ich hatte einen Moment richtige Angst, dass man sie dort mit dem Hubschrauber abholen müsse, aber sie hat sich dann ganz tapfer im vorsichtigen Schneckentempo bis zum Hostel zurück geschleppt.

Sobald das Hostel in Sicht kam, übermannte auch mich endlich die Erschöpfung, und wir schleppten uns auf direktem Weg in unsere Zimmer, obwohl der Abend eigentlich perfekt für ein Bad im Loch gewesen wäre, das hatten schon viele andere Gäste erkannt. Aber so müde, wie wir waren, wären wir wahrscheinlich wie Steine untergegangen. Bianca wollte vor dem Schlafen gehen noch heiß duschen, und gerade zwei Minuten, nachdem sie in den Duschen verschwunden war, ging mit lautem Getöse der Feueralarm los. So stand Bianca dann bloß in ein Handtuch gekleidet mit mir und den anderen Hostelgästen draußen vor dem Haus, und als die Hostel-Leitung uns mitteilte, dass es falscher Alarm gewesen war, weil die Mädchen aus Zimmer 10 zuviel mit Mücken-Spray gesprüht hatten, sah Bianca aus, als hege sie Mordgedanken.

 

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